Sehr geehrte Mandantinnen und Mandanten,
sehr geehrte Versicherungsmaklerinnen und -makler,

nicht viele rechtlich umstrittene Themenkreise sind noch ungeklärt, im „neuen“ VVG von 2008. Eine, und für die Praxis wohl die bedeutendste, ist die Frage, ob es eine sog. „spontane Anzeigepflicht“ für den Versicherungsnehmer bei Antragstellung gibt. Diese Rechtskenntnis ist gerade für Versicherungsvermittler von großer Bedeutung. Sonst kann schnell mal ein falscher Rat dem Kunden erteilt werden! Kennen Sie sich wirklich mit dieser Rechtslage aus?

Der folgende Newsletter von unserem Kollegen Herrn Rechtsanwalt Kosch soll in kurzer Zusammenfassung klären, wie die rechtliche Ausgangslage der Anzeigepflichten aussieht und im Anschluss das Thema der spontanen Anzeigepflicht anhand von Urteilen kurz beleuchten.


I. Die Anzeigepflicht §§ 19ff. VVG

Die vorvertragliche Anzeigepflicht wird im Kern ihrem Namen grundsätzlich nicht gerecht. Nach § 19 Abs. 1 S. 1 VVG hat der Versicherungsnehmer bis zur Abgabe seiner Vertragserklärung die ihm bekannten Gefahrumstände, die für den Entschluss des Versicherers, den Vertrag mit dem vereinbarten Inhalt zu schließen, erheblich sind und nach denen der Versicherer in Textform gefragt hat, dem Versicherer anzuzeigen. Anzuzeigen hat der Versicherungsnehmer also nur solche ihm bekannten Gefahrumstände, nach denen der Versicherer in Textform gefragt hat. Die Anzeigepflicht aus § 19 VVG wird deshalb auch gern als „Antwort-Obliegenheit“ bezeichnet (BeckOK VVG/Spuhl, 19. Ed. 1.5.2023, VVG § 19 Rn. 2).

Die §§ 19ff. VVG dienen dem Schutz des Versicherers und des Versichertenkollektivs (Beckmann/Matusche-Beckmann VersR-HdB/Knappmann § 14 Rn. 1). Ohne eine entsprechende Auskunft der (potentiellen) Versicherungsnehmer über die Gefahrumstände, kann das Versicherungsunternehmen keine eigene Risikobewertung durchführen und müsste sonst ihm völlig unbekannte und unkalkulierbare Risiken zeichnen. Die vorvertragliche Anzeigepflicht nach § 19 Abs. 1 S. 1 VVG soll dem Versicherer nur eine zutreffende Risikoeinschätzung ermöglichen (BT-Drucks. 16/3945 aaO; BGH r+s 2022, 605).

Fragen, die nicht zur Kenntnis des Versicherungsnehmers gelangt sind, können von diesem auch nicht unrichtig beantwortet worden sein. Der Versicherungsnehmer muss nicht selbst nach Fragen suchen, wenn ihn der Versicherungsvertreter etwa nur nach Größe und Gewicht fragt und keine weiteren Fragen zu seinen Gesundheitsverhältnissen stellt (BGH r+s 1996, 469; vgl. auch OLG Karlsruhe VersR 2020, 681; BeckOK VVG/Spuhl, 19. Ed. 1.5.2023, VVG § 19 Rn. 60).

II. Ist die spontane Anzeigepflicht des VN aus dem alten VVG erhalten geblieben?

Die gesetzliche Regelung des § 19 Abs. 1 S. 1 VVG ist im Wortlaut recht klar. Gleichwohl ist umstritten, ob dennoch Raum für eine Anzeigepflicht des Versicherungsnehmers unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben verbleibt.

Teilweise wird neben der Offenbarungspflicht im Rahmen des § 22 iVm §§ 123, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2; 242 BGB generell kein Raum für eine spontane Anzeigepflicht gesehen (Reusch VersR 2008, 1179; Staudinger/Looschelders § 242 Rn. 1077 mwN). Dabei wird darauf verwiesen, dass der Versicherungsnehmer nach der gesetzlichen Wertung des § 19 Abs. 1 Satz 1 VVG grundsätzlich darauf vertrauen dürfe, dass der Fragenkatalog des Versicherers alle gefahrerheblichen Umstände erfasse.

Für eine vertragliche Auskunftsobliegenheit ist anerkannt, dass ein Versicherungsnehmer Angaben zwar grundsätzlich nicht unaufgefordert zu machen braucht (BGH VersR 2006, 258), ihn jedoch in sehr eingeschränkt zu handhabenden Ausnahmefällen eine spontane Offenbarungsobliegenheit treffen kann. Eine solche auf dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) beruhende Offenbarungspflicht bezieht sich auf die Mitteilung außergewöhnlicher und besonders wesentlicher Informationen, die das Aufklärungsinteresse des – schutzwürdigen, also insbesondere nicht bewusst eingeschränkt fragenden – Versicherers (vgl. dazu: LG Detmold Urt. v. 14.6.2022 – 02 O 123/21) so grundlegend berühren, dass sich dem Versicherungsnehmer ihre Mitteilungsbedürftigkeit auch ohne Auskunftsverlangen aufdrängen muss (BGH VersR 2011, 1549; VersR 1969, 267; OLG Köln VersR 1991, 410 und OLG Saarbrücken VersR 1993, 216; BeckOK VVG/Spuhl, 19. Ed. 1.5.2023, VVG § 19 Rn. 61). Diese zu den vertraglichen Auskunftsobliegenheiten ergangene Rechtsprechung wurde schon seit längerem von den Obergerichten auf die vorvertragliche Anzeigepflicht des VN übertragen (vgl. OLG Karlsruhe r+s 2018, 313; OLG Celle r+s 2016, 500, BeckOK VVG/Spuhl, 19. Ed. 1.5.2023, VVG § 19 Rn. 61).

Es gibt sie also wohl doch noch, die spontane Anzeigepflicht! Viele Vermittler haben diese mit Einführung des „neuen“ VVG schon lange ganz totgesagt. Das ist aber nicht ganz richtig!

Dabei muss sich aber der VN grundsätzlich darauf verlassen können, dass der Versicherer die aus seiner Sicht gefahrerheblichen Umstände erfragt. Nach der gesetzlichen Wertung obliegt dem Versicherer die Mitteilung der Umstände, die er für gefahrerheblich ansieht. Wenn der Versicherer dies versäumt, kann es dem VN grundsätzlich nicht als Verstoß gegen Treu und Glauben angelastet werden, wenn er den Fragenkatalog als abschließend ansieht und nicht weitergehende Überlegungen dazu anstellt, was den Versicherer unter Umständen darüber hinaus interessieren könnte. Insofern ist der Auffassung zuzustimmen, dass eine spontane Anzeigepflicht nur bei Umständen besteht, die zwar offensichtlich gefahrerheblich, aber so ungewöhnlich sind, dass eine auf sie abzielende Frage nicht erwartet werden kann (OLG Celle, r+s 2016, 500 Rn. 63).

III. Fazit

Der Mythos, dass es keine spontane Anzeigepflicht gibt, stimmt so nicht. Die Obergerichte (allen voran das OLG Karlsruhe und das OLG Celle) nehmen eine spontane Anzeigepflicht dann an, wenn es sich um besonders wesentliche, aber auch außergewöhnliche Informationen handelt, dass eine Frage des VR hier gar nicht erwartet werden kann. Dies wird in der Praxis nur äußerst selten anzunehmen sein, da die Risikofragen immer ausufernder und detaillierter werden.

In jedem Fall sollten Versicherungsmakler Versicherungsnehmer hierüber in der Beratung aufklären und auf die mögliche Folge der Leistungsfreiheit des Versicherers hinweisen, wenn ganz ungewöhnliche gefahrerhebliche Umstände beim Kunden vorliegen, nach denen der Versicherer aber nicht ausdrücklich gefragt hat. Diese sind vielleicht dann besser doch freiwillig anzuzeigen, damit es im Schadenfall keinen Ärger gibt? Auf der anderen Seite besteht natürlich die Gefahr, dass der Versicherer den Antrag dann nicht annimmt. Hier können Makler und Kunden schnell in einer Zwickmühle stecken, was dem Versicherer über die Antragsfragen hinaus unaufgefordert mitzuteilen sein könnte. Es empfiehlt sich auch eine Dokumentation dieser Problematik mit dem Kunden, damit er nicht später behauptet, Sie hätten gesagt, dass nur die Antragsfragen wahrheitsgemäß zu beantworten sind, wenn Ihnen als Makler ganz ungewöhnliche gefahrerhebliche Umstände bekannt sind.

Für weitere Fragen steht Ihnen Herr Rechtsanwalt Fabian Kosch und unser gesamtes Kollegenteam gern zur Verfügung.

Mit herzlichen Grüßen

Ihr,

Stephan Michaelis LL.M.
Fachanwalt für Versicherungsrecht
Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht