Keine spontane Anzeigepflicht

Oberlandesgericht Karlsruhe, Urteil vom 20.4.2018, Az.: 12 U 156/16

Kathrin Pagel, Rechtsanwältin und Fachanwältin für Versicherungsrecht und Partnerin in der Kanzlei Michaelis

(Hamburg, den 25.11.2018) Die Arbeit des Versicherungsmaklers bestimmt sich in erheblichem Maße danach, was die Gerichte in der Praxis zur Beratung des Versicherungsnehmers als wesentlich ausurteilen. Aus diesem Grund sind wir immer am Puls der Zeit, was die Rechtsprechung Neues für unsere Makler bereit hält. Wesentliches aus dem Gerichtssaal zur Berufsunfähigkeitsversicherung hat sich auch in diesem Jahr wieder ergeben. Erwartungsgemäß hat das Oberlandesgericht Karlsruhe eine Entscheidung des Landgerichts Heidelberg zur spontanen Anzeigepflicht korrigiert.

Der Kläger, ein Orthopädietechniker für die Herstellung von Orthesen, hatte im Jahr 2010 eine Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen. Bei Antragstellung hatte der Versicherer keine Gesundheitsfragen gestellt, sondern vielmehr lediglich eine „Erklärung“ vorgedruckt, in welcher der Versicherungsnehmer durch Setzen eines Kreuzchens bestätigen sollte:

„Ich erkläre, dass bei mir bis zum heutigen Tage weder ein Tumorleiden (Krebs), eine HIV-Infektion (positiver AIDS-Test), noch eine psychische Erkrankung oder ein Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) diagnostiziert oder behandelt wurden. Ich bin nicht pflegebedürftig. Ich bin fähig, in vollem Umfange meiner Berufstätigkeit nachzugehen.“

Für den Fall, dass diese Frage nicht mit ja beantwortet werden könne, sollten Fragen eines weiteren Formulares beantwortet werden.

„Die Beklagte hatte in ihrem Versicherungsantragsformular für den Fall einer versicherten Berufsunfähigkeitsrente bis 12.000 EUR eine vorformulierte Erklärung des Versicherungsnehmers nur zu vier verschiedenen Krankheiten vorgesehen. Nur wenn der Versicherungsnehmer eine höhere Versicherungsleistung vereinbaren wollte oder sich gehindert sah, die vorgedruckte Erklärung abzugeben, sollte er den ausführlichen Fragenkatalog des von der Beklagten als Anlage B13  vorgelegten Formulars A122 beantworten, der sich unter Punkt 4 Buchst. J mit Krankheiten „des Gehirns, Rückenmarks oder der weiteren Nerven“ befasste und dort als Beispiel ausdrücklich „Multiple Sklerose“ nannte.“

Leistungsantrag wegen Berufsunfähigkeit im Jahr 2012 gestellt

Der Versicherungsnehmer hatte die Erklärung abgegeben und diesen Antrag gestellt und mit dem Versicherer den Vertrag im Jahr 2010 abgeschlossen. Im Jahr 2012 wurde der Leistungsantrag wegen Berufsunfähigkeit gestellt, wobei er angab, dass er an multipler Sklerose (MS) erkrankt war. Weiterhin gab er an, dass diese Erkrankung bereits im Juli 2002 erstmals diagnostiziert und fortlaufend behandelt wurde.

Der Versicherer berief sich daraufhin auf eine Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflichten und behauptete, der Kläger habe gefahrerhebliche Umstände vorsätzlich verschwiegen und darüber arglistig getäuscht. Weiterhin hielt sich der Versicherer aus diesem Grund für leistungsfrei.

Der Versicherungsnehmer hingegen war damit nicht einverstanden und beharrte darauf, dass er den Versicherungsantrag vollständig und richtig ausgefüllt hatte. Insbesondere hatte er an keiner der dort aufgeführten Krankheiten gelitten, ebenso wenig war eine solche diagnostiziert oder behandelt worden. Er war fähig, in vollem Umfang seiner Berufstätigkeit als Orthopädietechniker ohne Einschränkungen nachzugehen und auch nicht pflegebedürftig. Er war der Ansicht, bei Antragstellung seien die konkreten beruflichen Anforderungen an die „Laufstreckenfähigkeit“ in seinem Beruf gering genug gewesen, um eine Einschränkung nicht zu begründen. Die erforderlichen Wege zum Patienten, um beispielsweise gefertigte Orthesen anzupassen, seien ihm problemlos möglich gewesen, so dass er in seinen beruflichen Anforderungen nicht eingeschränkt war.

Rechtlich ist die Lage nach den gesetzlichen Bestimmungen so, dass der Versicherer grundsätzlich nur dann Rechte aus der Nichtangabe der Erkrankung an multipler Sklerose ableiten könnte, wenn es sich um einen anzeigepflichtigen Umstand gehandelt hätte. Genau das war hier aber fraglich.

Für die vorvertraglichen Anzeigepflichten des Versicherungsnehmers hat der Gesetzgeber in den gesetzlichen Regelungen des VVG 2008 unter § 19 VVG konkrete Voraussetzungen geschaffen.

Wann besteht eine Anzeigeobliegenheit?

Danach besteht eine Anzeigeobliegenheit nur noch bei Fragen, die der Versicherer in Textform gestellt hat.

Das bestätigte nun auch das Oberlandesgericht Karlsruhe in der Berufungsinstanz dieses Rechtsstreites. Eine Anzeigepflicht wird hinsichtlich der multiplen Sklerose durch das Gericht verneint. Dass der Kläger nicht bei Antragstellung auf die multiple Sklerose hingewiesen hat, war keine Täuschung, denn eine Aufklärungspflicht bestand insoweit nicht.

Wenn der Versicherer wie vorliegend nur eingeschränkte Gesundheitsfragen stellt, hier in Form der „Erklärung“, ist der Versicherungsnehmer gerade nicht verpflichtet, darüber hinausgehende Umstände zur Anzeige zu bringen, denn danach hat der Versicherer nicht gefragt. Mit dem Fragenkatalog gibt der Versicherer zu erkennen, welche erfragten Umstände aus seiner Sicht für den Vertragsschluss wissenswert erscheinen und damit relevant sind. So argumentiert auch das Oberlandesgericht Karlsruhe unter Verweis darauf, dass dies schon nach alter Rechtslage, d. h. vor Einführung des VVG 2008 der Fall war.

„Das „arglistige“ Verschweigen eines nicht anzeigepflichtigen Umstands stellt keine Täuschung im Sinne des Gesetzes dar.“

Darin findet sich auch die Intention des Gesetzgebers wieder, der eine Umkehr der Verantwortlichkeit im Sinn hatte. Der Versicherungsnehmer soll gerade nicht mehr im Ungewissen darüber sein, was der Versicherer als relevante Umstände ansieht. Dazu soll der Versicherer bei Antragstellung Fragen in Textform stellen, so § 19 Abs. 1 VVG, die der Versicherungsnehmer beantworten soll.

Ob der Bundesgerichtshof zu dieser spannenden Rechtsfrage noch Stellung nehmen wird, ist noch offen. Jedenfalls nach dem Oberlandesgericht Karlsruhe war dieser Sachverhalt nicht streitentscheidend.

Wie beurteilt das Oberlandesgericht Karlsruhe die Klage?

Unabhängig von dieser Problematik ließ das OLG Karlsruhe die Klage aus anderen Gründen scheitern.

Das Oberlandesgericht sah darüber hinaus an anderer Stelle eine arglistige Täuschung des Versicherungsnehmers. Diese sei durch Unterzeichnung der im Antragsformular angekreuzten Erklärung erfolgt, indem er vorspiegelte, fähig zu sein, seiner Berufstätigkeit in vollem Umfang nachzugehen. Tatsächlich sei dies nicht der Fall gewesen, so das Oberlandesgericht.

Seinen angegebenen Beruf als technischer Angestellter in der Orthopädie (Meister) in seiner konkreten Ausgestaltung habe er gerade bei Antragstellung schon nicht mehr uneingeschränkt ausüben können.

Bei der Einschätzung komme es nicht auf die Grundsätze des Arbeitsrechts an. Vielmehr wird ein Laie davon ausgehen, „dass es bei der Erklärung darauf ankommt, ob er die Aufgaben, die sein Beruf an ihn stellt, uneingeschränkt erfüllen kann. Keine Rolle könne es dabei spielen, weshalb dies nicht der Fall ist. Insbesondere liegt für ihn die Annahme fern, dass der Erklärungsinhalt in dem Fall, dass er krankheitsbedingten Einschränkungen unterliegt, die sein Leistungsvermögen reduzieren, so lange noch zutrifft, wie er die ihm verbleibende Leistungsfähigkeit noch ausschöpfen kann….

Für die Beurteilung der Richtigkeit der unterzeichneten Erklärung kommt es danach darauf an, ob der Kläger bei der Antragstellung in der Lage war, seinem konkret ausgeübten Beruf ohne Einschränkung nachzugehen und den damit einhergehenden Anforderungen im Rahmen des Zumutbaren gerecht zu werden ….“

Nach der Beweisaufnahme stand für das Oberlandesgericht nun auch fest, dass der Kläger bei Antragstellung bereits in den von ihm geschilderten typischen Tätigkeiten erheblich eingeschränkt war und ihm das bekannt gewesen sei. In der Folge nimmt das Oberlandesgericht eine arglistige Täuschung des Versicherers an in der Erklärung, er sei fähig, uneingeschränkt seiner Berufstätigkeit nachzugehen. Dies sei sowohl objektiv als auch subjektiv aus Sicht des Klägers selbst unrichtig gewesen.

Fazit:

Die Verletzung von vorvertraglichen Anzeigepflichten prüft die Versicherungsgesellschaft im Leistungsfall routinemäßig. Würde eine solche gefunden, könnte der Versicherer sich von dem Vertrag trennen, sämtliche gezahlten Beiträge behalten und müsste dennoch nur im Ausnahmefall leisten. Dann werden der Versicherungsnehmer und dessen Versicherungsmakler nicht selten auch mit dem Argument der „Arglist“ und „Rücktritt“ konfrontiert und bedürfen juristischer Hilfe, um das Blatt zugunsten des Versicherungsnehmers zu wenden.

Das Oberlandesgericht Karlsruhe bestätigt nun für den Fall von Verträgen mit eingeschränkten Gesundheitsfragen, wie diese in der Praxis von einigen Versicherern insbesondere in Gruppenverträgen angeboten werden, dass es eine spontane Anzeigepflicht hinsichtlich nicht erfragter Umstände nicht gibt. Der Versicherer hat es in der Hand, Fragen in Textform zu solchen Umständen zu stellen, die für ihn und für den Vertrag erheblich sind. Dies war auch die Intention des Gesetzgebers. Stellt der Versicherer keine oder nur eingeschränkte Antragsfragen, genügt es, wenn der Versicherungsnehmer diese – allerdings vollumfänglich und richtig – beantwortet. Weitergehende Angaben braucht er nicht zu erteilen. Eine klärende BGH-Entscheidung zu diesem Thema ist noch nicht ergangen.

Eine Auseinandersetzung mit dem Versicherer in solchen Fällen lohnt sich aus meiner Erfahrung heraus in den meisten Fällen. In der Praxis konnte schon eine Vielzahl zunächst streitiger Fälle zugunsten des Versicherungsnehmers durchgesetzt werden. Gerade in der Berufsunfähigkeitsversicherung werden schon bei der Leistungsbeantragung wichtige Weichen gestellt, die die Bearbeitung und die Abwicklung des Versicherungsfalles entscheidend beeinflussen können. Auch dabei kann juristische Hilfe in Anspruch genommen werden, um eine sonst mögliche spätere juristische Auseinandersetzung zu vermeiden.