Versicherungsvertrieb on nudging – die Bewältigung der EU-Nachhaltigkeitsregulierung

von Rechtsanwalt Oliver Timmermann, Kanzlei Michaelis Rechtsanwälte

(Hamburg, den 06.02.2021) Dieser Artikel enthält alle Angaben, Hinweise und Beispiele, die für eine praktische Bewältigung der neuen EU Taxonomie- und Offenlegungsverordnung („Off-VO“) nötig sind, die als EU Verordnung ab dem 10.03.2021 unmittelbare Anwendung im nationalen Recht findet. Erstaunlicherweise findet die Offenlegungsverordnung nur für Firmen Anwendung, die mehr als drei Mitarbeiter haben (für die darunter liegenden bleibt ein „empfehlungscharakter“). Für Versicherungsmakler ist diese Verordnung im Rahmen der Beratung nach § 7b und 7c VVG (Beratung und Beurteilung von Versicherungsanlage-produkte) beachtlich. Auch für alle betroffenen Unternehmer werden wir hoffentlich alles „leichtverdaulich“ und eingängig dargestellt. Dies geschieht aber mit kalkulierter Grausamkeit erst im zweiten Teil dieses Textes. Der Verfasser ist nämlich dezidiert der Meinung, dass die neuen Vorgaben der EU-Bürokratie sich nicht außerhalb des Zusammenhanges, gleichsam als „Haferbrei zum Schwarzbrot“, verdauen lassen.

Wenn die BaFin es sich mit ihrem regulatorischen Zollstock nicht nehmen ließ, zu dem in Politik und Wirtschaft so ambitionierten Thema der „Nachhaltigkeit“ ein ganzes Handbüchlein herauszugeben ; die Regenwälder auch wegen der Printprodukte zu Themen wie „Nudging“ und „Verhaltenssteuerung“ immer kleiner werden, müssen hier zumindest ein, zwei Worte zu dem epistemologischen Überbau der neuen Verordnungen Erwähnung finden dürfen.

I. Verhaltensökonomie oder der Weg zum libertären Paternalismus

Die Frage, was so etwas exotisches wie „Verhaltensökonomie“ mit etwas so „Eindeutigem“ wie einer neuen EU-Verordnung zutun hat, klärt sich auf, wenn man kurz erinnert, dass „Recht“ sich niemals nur auf die kodifizierten Texte des Parlamentes bzw. die Entscheidungen der Gerichte beschränkt. „Der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung liegt auch in unserer Zeit, wie zu allen Zeiten, weder in der Gesetzgebung, noch in der Jurisprudenz oder Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft selbst“ – dieser Satz von Eugen Ehrlich ist heute Allgemeingut und darf als unbestritten gelten.

Recht hinkt den real-wirtschaftlichen Gegebenheiten und sozial-politischen Verfasstheiten einer Gesellschaft immer hinterher , weil jede Rechtsentwicklung auf einer vorangegangenen gesellschaftlichen Entwicklung beruht. Man nennt dies das sog. „Abstandstheorem“ oder „Phasenverzögerung“. Diese Funktionsbetrachtung macht zugleich deutlich, dass eine wichtige Funktion des Rechts darin besteht, Verhaltens- und Erwartungssicherheit zu schaffen. Rechtliche Institute entstehen aus den politisch-sozialen Bedingungen ihrer Zeit, sie erstarren nach dem Wegfall dieser Randbedingungen in dogmatischen Figuren, die dann so etwas wie „Verlässlichkeit“ schaffen und sich beharrlich halten, während neue gesellschaftliche Entwicklungen sich wieder davon abspalten, sog. cultural lag.

Kritik an diesem überkommenen Recht wird danach immer dann lauter, wenn es mit einer bestimmten Gesellschaft oder Teile davon nicht länger funktional ist, sondern aus angebbaren Gründen endgültig überholt genannt werden muss. Dies geschieht zumeist dann, wenn die Erwartungshaltungen großer Teile oder einflussreicher Gruppen der Bevölkerung sich grundlegend geändert haben.

Von da aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Verhaltensökonomie.

Ausgangspunkt der Überlegungen hier bildet das in der Ökonomik gebräuchliche Modell des homo oeconomicus (Wirtschaftsmensch). Eine kaum überschaubare Zahl empirischer Studien kommt jedoch zu dem Schluss, dass Menschen, verglichen mit dem homo oeconomicus, strukturelle Unterschiede aufweisen und deswegen – in einem ökonomischen Sinne – defizitäre Entscheidungen treffen. Sie sind beispielsweise häufig unzureichend informiert, können Wahrscheinlichkeiten nicht richtig abschätzen, handeln gedankenlos, richten sich nach dem Verhalten und den Meinungen ihrer Mitmenschen oder folgen ganz eigenen, nicht ökonomisch abbildbaren Motiven. Das Nudge-Konzept folgert aus diesen Befunden die Möglichkeit und die Notwendigkeit, durch verhaltensökonomisch informierte Maßnahmen auf die Menschen einzuwirken, um ihnen nach ihren eigenen Maßstäben zu „besseren“ Entscheidungen verhelfen zu können.

Der Staat könne mit diesem Schlussstein im Handlungsbogen der öffentlichen Hand – so das Versprechen – die Bürger in der Rolle eines Entscheidungsarchitekten lenken und dabei trotzdem deren individuelle Entscheidungsfreiheit wahren.

Das Nudging wird daher einem libertären Paternalismus zugeordnet. Es meint, jemandem in seinem eigenen Interesse einen kleinen Schubs (engl. to nudge) zu geben. Der Staat will sich die Rationalitätsanomalien des Menschen zu Nutzen machen, um Menschen zu ihrem eigenen Glück zu bewegen. Wohlgemerkt bewegen, nicht zwingen. Nudging will menschliches Verhalten also im wohlverstandenen Interesse der Betroffenen manipulieren. An die Stelle von staatlichen Verboten und Geboten tritt die bewusste Gestaltung der „Entscheidungsarchitektur“. Die Rahmenbedingungen des Entscheiders sollen so geformt werden, dass er zum „richtigen“ Verhalten gelenkt wird – bei vorgeblich voller Wahrung seiner Wahlfreiheit.

Die ersten prominenten Fälle staatlicher Interventionen auf verhaltenswissenschaftlicher Basis waren im angelsächsischen Raum zu beobachten: Sowohl der damalige Premierminister Großbritanniens David Cameron als auch US-Präsident Barack Obama befürworteten den intensiven Einsatz von Nudging. Kontinentaleuropäische Regierungen schlossen sich dem verhaltenswissenschaftlichen Ansatz an – aber später und zögerlicher. Diese Diskrepanz in der Handhabe des neuen Steuerungsmittels hat nun wiederum seine Ursache in den unterschiedlichen Traditionen.

Die angelsächsische Debatte – und damit soll unser kleiner Exkurs auch schon enden – ist gekennzeichnet von Skepsis gegenüber staatlichen Interventionen, was dort Regulierung zu einem schwierigen Unterfangen macht, da beinahe jede Intervention als Eingriff in individuelle Freiheiten und als staatlicher Paternalismus gesehen wird. Mit seinem Fokus auf Interessen und Rechten von Individuen oder Gruppen kann man das vorherrschende Regierungsmodell als Konkurrenzdemokratie bezeichnen. Steuern einzuführen oder zu erhöhen ist praktisch unmöglich. Nudges und das Konzept eines „sanften“ oder „libertären“ Paternalismus kann somit als Weg verstanden werden, der Politik Spielräume zu eröffnen, sodass die politischen Kräfte wieder eine gemeinsame Basis für Verhandlungen finden.

In Kontinentaleuropa und vor allem im deutschen Verfassungsrechtsdiskurs wird der Staat nicht so sehr als unabhängige, aus sich heraus bestehende Entität betrachtet, sondern — ausgehend von einem anderen Freiheitsbegriff — als Mechanismus der kollektiven Selbstbindung. Regulierung gilt hierzulande nicht in erster Linie als Einschränkung individueller Rechte, sondern als verfassungsrechtlich gerechtfertigte Förderung des Allgemeinwohls. Schön reguliert, ist halb gewonnen. US-Juristen sehen darin gern das Resultat eines konkordanz-demokratischen Systems, in dem es quasi keine Opposition mehr gibt. Der Begriff des „Paternalismus“, ob sanft oder hart, ist der öffentlichen und juristischen Debatte hier eher fremd, da staatlicher Interventionismus im Sozialstaat deutscher Provenienz – man mag dies bedauern, wird es aber nicht ändern können – die Regel und nicht die Ausnahme ist.

Erstes Zwischenergebnis

Recht leitet seine Geltung aus der Verfassung ab, ist also staatliches Recht. Deshalb heißt unser heutiger Rechtsbegriff etatistisch. Und er ist zugleich monistisch, denn jedenfalls der moderne Staat duldet keine andere autonome Rechtsquelle neben sich. In der Rechtsphilosophie heißt dieser Rechtsbegriff positivistisch, weil er auf das aktuell geltende, also das positive Recht abstellt. Nach diesem Grundverständnis funktionieren derzeit weitestgehend noch Rechtsanwälte und Gerichte. Die Auflösung dieses etatistischen Rechtsmodells hat aber längst begonnen, da neben dem verstaatlichten Recht andere Rechtserzeugnisse Anerkennung finden. Gesellschaftliche Umwälzungen haben diese monistisch-etatistische Sicht überholt. Allgemein wird heute also ein Bedeutungsverlust dieses staatlichen Rechts insgesamt konstatiert. Damit schließt sich der Kreis des o.g. cultural lags. Der Staat hat sich in den zurückliegenden Dekaden übernommen und von Staats wegen muss nun eine neue, konsensuale Streitkultur gefordert und gefördert werden. Der Staat ist längst nicht in Auflösung begriffen, aber vieles ist beweglicher oder flüssiger geworden. Das monistisch-etatistische Rechtsmodell scheint an vielen Ecken und Enden durchlöchert oder überwuchert. Wir leben, wie die Amerikaner sagen, in einer post westphalian world. Gemeint ist, dass der Zuschnitt der Nationalstaaten, wie er sich nach dem Westfälischen Frieden herausgebildet hat, nicht länger passt.

II. Nachhaltigkeits-EU-Verordnungen – sustainable finance

Gedanklicher Ausgangspunkt der EU-Kommission bei der Erarbeitung ihres Aktionsplans „Finanzierung nachhaltigen Wachstums“ ist die Lenkung bzw. Regulierung von Geldströmen in Form von Kapitalanlagen. Die vorgeschlagenen neuen Regeln knüpfen an die bestehende Produktregulierung und Vertriebsregulierung an, enthalten aber auch ganz neue Ansätze in Form eines speziellen Offenlegungsregimes (vgl. unter 1.) sowie der Einführung eines einheitlichen Klassifizierungssystems (Taxonomie, vgl. unter 2.).

Die EU-Kommission hat die ESMA 2018 mit einer fachlichen Stellungnahme beauftragt, im Rahmen der geltenden Produktregulierung nötige Änderungen oder Ergänzungen im Hinblick auf Nachhaltigkeitsrisiken und Nachhaltigkeitsfaktoren zu gewährleisten. Die ESMA hat ihren Bericht („Final Report“) 2019 vorgelegt und Ergänzungen in der Delegierten VO (EU) Nr. 231/ 2013 sowie der Delegierten RL 2010/43/EU vorgeschlagen. Die beabsichtigten Änderungen betreffen jeweils organisatorische Anforderungen, Verhaltenspflichten und das Risikomanagement. Für den maßgeblichen Begriff des „Nachhaltigkeitsrisikos“ („sustainability risk“) wird auf die entsprechende Definition in der Offenlegungs-VO verwiesen.

Der Auftrag der EU-Kommission vom 2018 richtete sich außerdem an die EIOPA. Sie wurde – und hier wird es für den Versicherungsvertrieb interessant – gebeten, eine fachliche Stellungnahme („Technical Advice“) dazu vorzulegen, welche Änderungen oder Neuregelungen im Rahmen der Versicherungsvertriebs-RL IDD einschließlich diese konkretisierender Delegierter Rechtsakte erforderlich erscheinen.

Die EIOPA schlägt in ihrem „final report“ von 2019 nun Änderungen in der Delegierten VO (EU) 2017/2359 im Hinblick auf die Regelung von Interessenkonflikten sowie in der Delegierten VO (EU) 2017/2358 in Bezug auf die „Product Governance“ Anforderungen (insbesondere den Zielmarkt betreffend) vor. Ergänzend gab es einen Vorschlag der EU-Kommission zur Änderung der Delegierten VO (EU) 2017/2359, der Aspekte der Geeignetheitsprüfung im Zusammenhang mit der Beratung zu Versicherungsanlageprodukten betraf.

1.) Offenlegungs-VO

Einen ganz neuen Regelungsansatz verfolgt die EU-Kommission mit der Offenlegungs-VO, die in endgültiger und verbindlicher Fassung vorliegt.

a) Wesentliche Begriffe und Anwendungsbereich

Neuartig ist bereits die Zusammensetzung des Adressatenkreises. Die Verordnung richtet sich an „Finanzmarktteilnehmer“ (vgl. Art. 2 Ziff. 1 lit. a) bis j) VO (EU) 2019/2088) und „Finanzberater“ (vgl. Art. 2 Ziff. 11 lit. a) bis f) VO). Unter einem „Finanzmarktteilnehmer“ sind ganz unterschiedliche Akteure – von einem Versicherungsunternehmen, das Versicherungsanlageprodukte anbietet, über eine Wertpapierfirma oder ein Kreditinstitut, bis hin zu einer Einrichtung der betrieblichen Altersversorgung zu verstehen. „Finanzberater“ sind insbesondere Wertpapierfirmen oder Kreditinstitute, die Anlageberatung erbringen, sowie eben auch Versicherungsvermittler oder Versicherungsunternehmen, die zu Versicherungsanlageprodukten beraten.

Die von der Verordnung erfassten Produkte oder Instrumente werden als „Finanzprodukte“ bezeichnet (vgl. Art. 2 Ziff. 12 VO), worunter insbesondere verwaltete Portfolien, Versicherungsanlageprodukte, Altersvorsorgeprodukte, AIF und UCITS (und insoweit im Ergebnis die jeweils betreffenden Investmentfondsanteile) fallen.

Die weiter eingeführten und verwendeten zentralen Begrifflichkeiten im Hinblick auf die „Nachhaltigkeit“ sind folgende:

– nachhaltige Investition (vgl. Art. 2 Ziff. 17 VO),

– Nachhaltigkeitsrisiko (vgl. Art. 2 Ziff. 22 VO) und

– Nachhaltigkeitsfaktoren (vgl. Art. 2 Ziff. 24 VO).

Die nachhaltige Investition wird ausführlich und komplex definiert. In der Sache geht es um Investitionen zur Erreichung von Umweltzielen (u.a. „Treibhausgasemissionen“) oder sozialen Zielen und Unternehmen, in die investiert wird, die „Verfahrensweisen einer guten Unternehmensführung anwenden“ (wobei u. a. die „Einhaltung der Steuervorschriften“ ausdrücklich erwähnt wird).

Ein Nachhaltigkeitsrisiko wird dem gegenüber definiert als „ein Ereignis oder eine Bedingung in den Bereichen Umwelt, Soziales oder Unternehmensführung“, woraus sich „wesentliche negative Auswirkungen auf den Wert der Investition“ ergeben könnten. Nachhaltigkeitsfaktoren sind beschrieben als „Umwelt-, Sozial- und Arbeitnehmerbelange, die Achtung der Menschenrechte und die Bekämpfung von Korruption und Bestechung“.

Bei der Betrachtung der (teils vereinfacht wiedergegebenen) Begriffsbestimmungen fällt auf, dass es an Einheitlichkeit mangelt. Die bekannte Trias „ESG“ scheint zwar deutlich auf, wird aber nicht durchgängig verwendet. Während sich eine nachhaltige Investition auf Umweltbelange oder soziale Belange beziehen soll, und Aspekte der Unternehmensführung (engl.: „Governance“) dabei nur ein Ausschlussfaktor sein können, umfasst das Nachhaltigkeitsrisiko die Belange Umwelt, Soziales und Unternehmensführung gleichermaßen. Nachhaltigkeitsfaktoren sind dann zwar auch Umweltbelange und soziale Belange, doch ist hier statt von Unternehmensführung von Arbeitnehmerbelangen die Rede, und es werden außerdem ganz allgemeine und grundlegende Aspekte wie die Menschenrechte und schließlich die Bekämpfung von Korruption und Bestechung genannt.

b) NEUE Offenlegungspflichten

(1) Überblick

Inhaltlich enthalten die Art. 3 bis 13 VO eine Reihe von unterschiedlichen und sich teilweise ergänzenden Offenlegungsanforderungen. Die Offenlegungspflichten für Finanzmarktteil- nehmer sind grundsätzlich weitergehend als diejenigen für Finanzberater. Die vorgeschriebene Art und Weise der Offenlegung kann je nach Zusammenhang differieren:

– auf Webseiten (vgl. Art. 3, 4, 5, 8, 9 und 10 VO),

– in vorvertraglichen Informationen (vgl. Art. 6, 7, 8, 9 VO) und/oder

– in regelmäßigen Berichten (vgl. Art. 8, 9, 11 VO).

Folgende Regelungsziele sind in den Artikeln enthalten:

– Art. 3 VO regelt die Offenlegung von Informationen zu Strategien zur Einbeziehung von Nachhaltigkeitsrisiken bei Anlageentscheidungen bzw. (Anlage-) Beratungstätigkeiten;

– Art. 4 VO enthält Bestimmungen zur Offenlegung von „Strategien zur Wahrung der Sorgfaltspflicht“ (sog. „due diligence policies“) im Umgang mit den „wichtigsten nachteiligen Auswirkungen“ von Anlageentscheidungen auf Nachhaltigkeitsfaktoren bzw. zur Offenlegung, ob bei einer (Anlage-)Beratung die „wichtigsten nachteiligen Auswirkungen“ auf Nachhaltigkeitsfaktoren berücksichtigt werden;

– Art. 5 VO erfordert die Offenlegung der Einbeziehung von Nachhaltigkeitsrisiken im Rahmen der Vergütungspolitik;

– Gem. Art. 6 VO ist offenzulegen, wie Nachhaltigkeitsrisiken bei Anlage-entscheidungen bzw. einer (Anlage-)Beratung einbezogen werden, und wie die etwaigen Auswirkungen von Nachhaltigkeitsrisiken auf die Rendite der angebotenen oder empfohlenen Finanzprodukte bewertet werden und

– Art. 7 VO sieht vor, klare und begründete Erläuterungen dazu offenzulegen, ob und ggf. wie bei einzelnen Finanzprodukten die wichtigsten nachteiligen Auswirkungen auf Nachhaltigkeitsfaktoren berücksichtigt werden.

Für den Fall, dass Finanzprodukte bestimmte nachhaltigkeitsbezogene Eigenschaften aufweisen, enthalten Art. 8 und 9 VO ergänzende Anforderungen, die bei einer Offenlegung gem. Art. 6 VO zusätzlich zu beachten sind. Art. 8 VO ist anwendbar auf Produkte, mit denen „unter anderem ökologische oder soziale Merkmale oder eine Kombination aus diesen Merkmalen beworben“ werden, „sofern die Unternehmen, in die investiert wird, Verfahrensweisen einer guten Unternehmensführung anwenden“. Offenzulegen sind dann nähere Angaben dazu, wie diese Merkmale erfüllt werden, und inwiefern etwaige Referenzindizes mit diesen Merkmalen vereinbar sind. Art. 9 VO kommt zum Tragen, wenn mit einem Produkt eine nachhaltige Investition (vgl. Art. 2 Ziff. 17 VO) oder eine Reduzierung der CO2-Emissionen angestrebt wird. Dann sind „Erläuterungen“ bzw. ist „eine ausführliche Erklärung“ dazu erforderlich, wie das angestrebte Ziel jeweils erreicht werden kann. Soweit ein Index als Referenzwert verwendet wird, sind entsprechende Angaben darauf bezogen zu machen. Die Art. 10 und 11 VO enthalten weitere Anforderungen im Hinblick auf jeweils offenzulegende Details.

Im Rahmen der Art. 4, 6 und 7 VO kommt in Frage, dass der betreffende Finanzmarktteilnehmer oder Finanzberater Nachhaltigkeitsrisiken als nicht relevant erachtet. Dies hat er dann allerdings zu erklären bzw. begründen. Versicherungsvermittler oder Wertpapierfirmen, die (Anlage-)Beratung anbieten und weniger als drei Personen beschäftigen, müssen die Offenlegungs-VO gar nicht anwenden (vgl. Art. 17 Abs. 1 VO).

(2) Eingruppierung

Wenn man die auf den ersten Blick schwer unterscheidbaren einzelnen Offenlegungsanforderungen strukturieren möchte, lassen sich folgende wesentliche Pflichtengruppen unterscheiden:

– die vergütungsbezogenen Anforderungen (vgl. Art. 5 VO);

– die Einbeziehung von Nachhaltigkeitsrisiken bei Anlageentscheidungen bzw. (Anlage) Beratungstätigkeiten, unter Berücksichtigung etwaiger Auswirkungen von Nachhaltigkeitsrisiken auf die Rendite der betreffenden Finanzprodukte, und mit Weiterungen für Finanzprodukte mit besonderen Nachhaltigkeitsmerkmalen (vgl. Art. 3 und 6 VO, ggf. ergänzt durch Art. 8 oder 9 VO) und

– die Berücksichtigung nachteiliger Auswirkungen von Anlageentscheidungen bzw. (Anlage-) Beratungstätigkeiten auf Nachhaltigkeitsfaktoren (vgl. Art. 4 und 7 VO).

Auch wenn der Wortlaut der einzelnen Vorgaben mitunter einen eindeutigen Bezug zu den betreffenden Finanzprodukten vermissen lässt, dürften die Anforderungen sinnvollerweise nur im Zusammenhang mit Finanzprodukten zu verstehen sein, die jeweils Gegenstand der Anlageentscheidung bzw. (Anlage-) Beratungstätigkeit sind. Ohne Produktbezug und ohne Erwerb von Produkten durch Anleger gäbe es auch hier letztlich keine einzubeziehenden Risiken oder zu berücksichtigenden Auswirkungen.

c) Zweites Zwischenergebnis

Die skizzierten neuen Anforderungen (mit den noch ausstehenden weiteren Konkretisierungen) stellen nicht zu unterschätzende Herausforderungen für die betroffenen Finanzmarktteilnehmer und Finanzberater dar. Die offenzulegenden Informationen betreffen weitgehend interne oder kundenbezogene Prozesse, Abläufe und Vorgänge, die so bislang nicht vorhanden waren und überhaupt erst geschaffen werden müssen, bevor an eine Offenlegung gedacht werden kann.

2.) Taxonomie-VO

Ein weiterer zentraler Baustein des von der EU-Kommission verfolgten Aktionsplans ist die Taxonomie-VO. Auch hierbei handelt es sich um einen neuartigen Regulierungsansatz von großer Tragweite. Die Grundidee dieser Verordnung ist es, ein einheitliches europäisches Klassifikationssystem zu schaffen, das eine konsistente und nachvollziehbare Beurteilung der Nachhaltigkeit einer bestimmten wirtschaftlichen Tätigkeit erlauben soll.

Die Taxonomie-Verordnung trat zwanzig Tage nach Veröffentlichung im EU-Amtsblatt in Kraft, also schon seit längerem, damals am 12. Juli 2020.

a) Inhalt der VO

Die Taxonomie-VO ist anzuwenden auf Finanzmarktteilnehmer, die Finanzprodukte als ökologisch nachhaltige Investitionen oder Investitionen mit ähnlichen Merkmalen „bereitstellen“ (vgl. Art. 1 Abs. 2 lit. b) VO). Die Taxonomie-VO bezieht sich – anders als von Beginn an die Offenlegungs-VO – allerdings nur auf die ökologische Nachhaltigkeit einer Investition bzw. wirtschaftlichen Tätigkeit. Dreh- und Angelpunkt der Taxonomie-VO sind dem entsprechend die in Art. 9 VO definierten sechs Umweltziele.

Dies sind:

– Klimaschutz,

– Anpassung an den Klimawandel,

– nachhaltige Nutzung und Schutz von Wasser- und Meeresressourcen,

– Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft, Abfallvermeidung und Recycling,

– Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung und

– Schutz gesunder Ökosysteme.

Art. 3 VO der Taxonomie-VO legt fest, welche Kriterien maßgeblich sind, um die ökologische Nachhaltigkeit einer Investition bzw. wirtschaftlichen Tätigkeit zu beurteilen. Es handelt sich gem. lit. (a) bis (d) um die folgenden vier Anforderungen, die sämtlich erfüllt sein müssen:

– die wirtschaftliche Tätigkeit trägt wesentlich zur Verwirklichung eines oder mehrerer Umweltziele,

– die wirtschaftliche Tätigkeit führt zu keiner erheblichen Beeinträchtigung eines der Umweltziele (vgl. Art. 12),

– die wirtschaftliche Tätigkeit wird unter Einhaltung eines festgelegten Mindestschutzes ausgeübt (vgl. Art. 13),

– die wirtschaftliche Tätigkeit steht im Einklang mit technischen Evaluierungskriterien, soweit diese von der EU-Kommission festgelegt worden sind (vgl. z.B.: Art. 6 Abs. 2, Art. 7 Abs. 2).

Art. 5 enthält eine korrespondierende Offenlegungspflicht. Danach müssen Finanzmarkt-teilnehmer, die Finanzprodukte als ökologisch nachhaltige Investitionen oder als Investitionen mit ähnlichen Merkmalen anbieten, offenlegen, inwiefern sie die vorstehend genannten Kriterien berücksichtigt haben.

III. Welche Frage muss dem Kunden gestellt werden?

Nun sollen die Punkte angesprochen werden, die für die „Beratung“ relevant werden können. Muss der Kunde entsprechend der Definition des Begriffs „Nachhaltigkeitspräferenzen“ initial danach gefragt werden, ob nachhaltige Produkte in seine Kapitalanlagestrategie integriert werden soll oder nicht?

Art. 4 Abs. 5 lit. a) Off-VO verpflichtet Finanzberater, eine Erklärung zu veröffentlichen, ob sie unter dem Gesichtspunkt der Proportionalität und der Arten der Finanzprodukte, die Gegenstand ihrer Beratung sind, bei ihrer Anlage- oder Versicherungsberatung die wichtigsten nachteiligen Auswirkungen auf Nachhaltigkeitsfaktoren berücksichtigen. Sollten Finanzberater diese Auswirkungen nicht berücksichtigen, sind sie verpflichtet, zu erklären, warum sie diese Auswirkungen bei ihrer Beratung nicht berücksichtigen und ob bzw. ab wann sie beabsichtigen, dies zu ändern (vgl. Art. 4 Abs. 5 lit. b) Off-VO). Die jeweiligen Erklärungen sind durch die Finanzberater auf dem aktuellen Stand zu halten.

Hierzu – zu diesen originären Pflichten des Beraters – enthalten die Art. 12 und 13 RTS enthalten detaillierte Vorgaben wie Inhalt, Methodik und Darstellung dieser Erklärungen aussehen sollen.

Zur Konkretisierung der Vorschriften der Off-VO (oder SFDR) veröffentlichten die drei Europäischen Aufsichtsbehörden (ESAs) bestehend aus EBA, EIOPA und ESMA 2020 ein gemeinsames Konsultationspapier für technische Regulierungsstandards zur Offenlegung von Nachhaltigkeitsinformationen für Finanzmarktteilnehmer, Finanzberater und Finanzprodukte.

Finanzberater, welche die wichtigsten nachteiligen Auswirkungen von Investitionsentscheidungen auf Nachhaltigkeitsfaktoren bei der Ausübung ihrer Beratungstätigkeit berücksichtigen, sind gem. Art. 12 RTS verpflichtet, eine Erklärung auf ihrer Internetseite in der Rubrik „Adverse sustainability impacts statement“ zu veröffentlichen.

Die Erklärung muss:

– Einzelheiten über das Verfahren zur Auswahl der Finanzprodukte enthalten, zu denen sie beraten;

– enthalten, wie die von den Finanzmarktteilnehmern veröffentlichten Informationen verwendet werden;

– darüber hinaus Informationen enthalten, ob und ggfs. wie der Finanzberater Finanzprodukte auf der Grundlage der wichtigsten nachteiligen Auswirkungen gem. Anhang I Tabelle 1 einstuft und auswählt und

– schließlich sind alle Kriterien oder Schwellenwerte darstellen, die zur Auswahl von Finanzprodukten und zur Beratung über diese auf der Grundlage wichtigsten nachteiligen Auswirkungen verwendet werden.

Sollten sich Finanzberater allerdings dazu entscheiden, die wichtigsten nachteiligen Auswirkungen von Investitionsentscheidungen auf Nachhaltigkeitsfaktoren nicht zu berücksichtigen, müssen sie die entsprechende Erklärung auf ihrer Internetseite gem. der Vorgaben in Art. 13 RTS veröffentlichen, sog. no consideration of sustainability adverse impacts.

IV. Ergebnis

Die Nachhaltigkeit ist ein Konzept, dass einen gesellschaftlichen Bewusstseinswandel wiederspiegelt, an dem Politik und Recht nicht mehr vorbeikommen. Die EU reagiert mit bürokratischen Governance-Strukturen, obwohl eigentlich nudging angedacht war?

Die EU-Regulierung zu „Sustainable Finance“ findet ihren Ursprung nämlich einerseits in der „2030 Agenda for Sustainable Development“ der UN von Herbst 2015 mit ihren 17 Zielen zur nachhaltigen Entwicklung. Zum anderen fußt sie auf dem „Paris Agreement“ aus Herbst 2016 mit der Verpflichtung, die Erderwärmung unter 2 Grad gegenüber dem vorindustriellen Stand zu halten. Die EU hat daraufhin Ende 2016 eine „High Level Expert Group“ damit beauftragt, eine Strategie für eine nachhaltige Finanzwirtschaft auszuarbeiten. Diese Gruppe legte dann einen Plan vor, den sich die EU-Kommission im März 2018 unter dem Titel „Aktionsplan: Finanzierung nachhaltigen Wachstums“ zu eigen machte.

Es sollen:

– die Kapitalflüsse auf nachhaltige Investitionen umgelenkt werden, um ein nachhaltiges und integratives Wachstum zu erreichen;

– die finanziellen Risiken, die sich aus dem Klimawandel, der Ressourcenknappheit, der Umweltzerstörung und sozialen Problemen ergeben, bewältigt werden;

– die Transparenz und Langfristigkeit in der Finanz- und Wirtschaftstätigkeit gefördert werden.

Entsprechend dieser Zielsetzungen hat die Kommission unter anderem dem Versicherungssektor eine zentrale Rolle bei der Neuausrichtung des Finanzsystems auf Nachhaltigkeit zugedacht, weil die Versicherungen über erhebliches Kapital verfügen, das es anzulegen gilt.

Dieser immense bürokratische Aufwand wird betrieben, um in einem einheitlichen europäischen Wirtschaftsraum die ökonomischen Entscheidungsträger (Finanzmarktteilnehmer und Finanzberater) dazu zu bewegen, im entsprechenden Sinne auf die Verbraucher zuzugehen. Bitte beachten Sie diese Verordnung künftig!